Irmgard Wutte hat 10 Jahre in Kenia gelebt, die erste Waldorfschule in Äquatorialafrika mit aufgebaut und vielfältige Projekte ins Leben gerufen. Seit 1998 veranstaltet sie Kenia- und Asienreisen, Reisen ganz persönlich, siehe www.nyendo-reisen.de. Ihr Buch „Ein leiser Ruf aus Afrika. Mein Leben für die Kinder in Kenia“ begleitet mit seinem reichen Erfahrungsschatz die Aufbauarbeit von pro-A-kids von Anfang an und es ist ihr wie uns ein Anliegen, Gleichgesinnte zu vernetzen, um ein „mehr“ zum erreichen. Wenn immer es möglich ist, versuchen wir auch, unsere Besuche in Kenia durch gemeinsame Aktivitäten zu verbinden. Wir fügen hier ihre Erfahrungen zum Thema „Reisen“ ein, da es niemand von uns besser beschreiben könnte.
Seit Jugend an spüre ich den Reisevirus in mir. Er ist mittlerweile ziemlich weit verbreitet und nicht ganz unproblematisch, trägt er doch auch zur Belastung der Umwelt bei. Darum gilt es die eigenen Beweggründe gut zu prüfen um die Konsequenzen auch verantworten zu können. Es gibt die unterschiedlichsten Motivationen und Gründe zu Reisen von Geschäfts- und Bildungsreisen bis zu Abenteuer- und Vergnügungsreisen. Für mich stand immer die persönliche Begegnung mit Land und Leuten im Mittelpunkt. Je persönlicher sie war, desto mehr war ich betroffen und berührt. Mein selbstverständliches und oft unbewusstes So-sein-wie-ich-bin – auch als Teil einer bestimmten Gesellschaft mit all ihren Bedürfnissen, Werten und Verhaltensmustern – wird durch das Fremde erst so recht bewusst. Und dieser Moment als Krise und Chance zugleich, wirft ein neues Licht auf mich und manch meiner unbewussten Zwänge und führt dazu, dass neue Ideen, Impulse, Gefühle einströmen können. Das kennen wir auch von anderen Lebenssituationen, etwa von besonderen Herausforderungen und Schicksalsschläge – sie führen zu innerem Wachstum. Was kommt beim Reisen darüber hinaus noch dazu?
Wir stehen am Anfang einer neuen Zeitepoche des „Miteinander Füreinanders“, wie der dm-Gründer Götz Werner es formuliert hat. In der arbeitsteiligen Wirtschaft ist die Globalisierung bereits realisiert, die brüderliche Gestaltung aber für die meisten Menschen noch nicht verwirklicht. Wie kann die Verantwortung für die Globalisierung unser Handeln nachhaltig ergreifen, sodass wir z.B. als Konsumenten fair und bewusst einkaufen? Informationen in Form von Fakten und Daten all der weltweiten Not und der Missstände scheinen nicht zu genügen, um unseren Willen zu ergreifen. Es macht sich eher ein Gefühl der Ohnmacht breit. Hier hätte die Reisebranche eine Aufgabe.
Mit Takt und Feingefühl können ganz persönliche Begegnungen mit Benachteiligten und Leidtragenden der Menschheit herbeigeführt werden, die zu persönlicher Betroffenheit führen und nachhaltig verändernd wirken. Die Betroffenheit dabei ist umso größer, je würdevoller die Begegnung ist. Dazu zwei Beispiele:
Eine kenianische Bekannte lud uns in eine von kenianischen Lehrern geführte Slumschule ein. Der etwa dreißigjährige Headmaster begrüßte uns in Hemd und Anzug förmlich, doch herzlich und bat uns in sein 9 qm² großes Büro in einer der zwei länglichen Holzbaracken. Dicht gedrängt hockten wir auf schmalen Holzbänken entlang den Wänden, während er auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch saß und – strahlte! Eifrig und ernst zugleich erzählte er von all seinen Errungenschaften, den Schülern, den Abschlussergebnissen und zeigte den eingerahmten Grundbucheintrag des Grundstückes. Das war sein größter Stolz, denn für dieses Stück Land hatte es viele Bewerber gegeben, aber er und seine Kollegen hatten es zugewiesen bekommen. Die steigenden Schülerzahlen hatten auch einen Grund: es war ihm gelungen, günstig Bohnen zu erwerben, durch die er seinen Schülern täglich eine warme Mahlzeit bieten konnte, sodass sie vormittags nicht auf der Suche nach Nahrung den Müll durchstöbern mussten. Als sein Bericht zu Ende war, wollten wir mehr über die finanzielle Situation wissen. Sichtlich unangenehm war es ihm zuzugeben, dass seine Lehrer nicht immer ihr Gehalt bekommen konnten und sich Zimmer teilen mussten. Die Besichtigung der Schulräumlichkeiten war ernüchternd, glichen sie doch eher geputzten Schafställen mit einer abgeschabten Fläche an der Wand als Tafel. Bei der Vorstellungsrunde der Lehrer, die trotz Sommerferien gekommen waren, fiel auf, wie wichtig es jedem einzelnen war, seinen Namen zu nennen und einige sagten: „Vergesst uns nicht.“ Das persönliche Wahrgenommen-Werden war für sie entscheidend. Für den Abschluss sorgte der Musiklehrer, der sich mit einem viel zu großen Hut, einer Plüschjacke und einer knallblauen Hose herausgeputzt hatte, dies jedoch in keinster Weise witzig oder komisch fand, sondern mit stoischem Ernst seine kleine Schülerschar dirigierte, sichtlich geehrt durch sein weißes Publikum.
Waren es die strahlenden Augen des Direktors, die Aufmachung des Musiklehrers oder die schönen Kinderstimmer in dieser Umgebung? Wer weiß, auf jeden Fall floss manche Träne auf unserer stillen Rückfahrt im Minibus.
Auf den Philippinen durften wir das Kinderheim des irischen Paters Shay Cullen besuchen, Kinder, die von der Straße und aus den Gefängnissen geholt werden und ihre traumatischen Erlebnisse von Gewalt und Missbrauch aufarbeiten. Etwa die Hälfte dieser Kinder bleiben, die anderen gehen zurück in ihr altes Leben. Uns Gästen zu Ehren wurde eine Welcome Party gegeben, auf welcher die Kinder ein kleines Programm an Tänzen und Liedern darboten. Auch ein kleines Theaterstück war dabei, das von acht zehn- bis vierzehnjährigen Jungs in ihrer Heimatsprache aufgeführt wurde, mit kleinen hiphopartigen Tanz- und Singeinlagen. Es handelte von ihrer Vergangenheit wie und warum sie ins Gefängnis gekommen waren. Obwohl wir die Worte nicht verstanden, konnten wir in ihren ernsten, tiefen Augen lesen. Ich werde die Kraft und Entschlossenheit dieser Kinderaugen nie vergessen.
Ein letztes Beispiel: Ein kenianischer Fischer verkaufte meinem 13jährigen Sohn und mir auf einem vorgelagerten Riff am Indischen Ozean einen Tintenfisch. Im Gespräch erfuhren wir, dass er seit vielen Jahren bis zu 15 Meter tief ohne Sauerstoffgerät tauchte, um Meerestiere zu fangen. Er konnte drei Minuten die Luft anhalten und musste gut abspüren, wann er wieder auftauchen musste. Mit angehaltenem Atem die Tintenfische in dieser Tiefe aus dem Korallenriff zu lösen war enorm anstrengend. Ob er es denn auch mit Haien zu tun bekomme, wollte mein Sohn wissen. „Die schlafen tags“, war die Antwort, „und liegen wie Baumstämme im Wasser. Wird einer wach muss man sich selbst tot stellen, dann umkreisen sie einen neugierig, aber schwimmen weiter. Das habe ich schon erlebt.“ Meinem Sohn standen die Haare zu Berge. Der arme Fischer wurde für ihn zum leibhaftigen Helden – er wird ihn nie vergessen!
Solche Erlebnisse prägen sich tief ein, und verwandeln einen. Ich erkenne meinen Menschenbruder und seine Göttlichkeit in den widrigsten Umständen und bin berührt. Die eigenen Sorgen lösen sich für den Moment in nichts auf; zugleich empfinde ich eine Scham, dass es diesem Menschen äußerlich so viel schlechter geht als mir, aber seine Menschenwürde mir aus seinen Augen entgegenstrahlt.
Acht Elftklässler aus der Rudolf Steiner Schule Ismaning, die ihr vierwöchiges Sozialpraktikum in Kenia absolvierten konnten dieses Erlebnis sehr treffend formulieren. Erst waren sie monatelang wie verstummt. Als sie sich endlich äußern konnten, hieß es: „Wir haben uns so geschämt weiß zu sein.“ „Es hat Wochen gedauert, bis ich unsere Gesellschaft wieder aushalten konnte.“, „Ja, warum denn?“ „ Die Menschen dort sind irgendwie so fröhlich und herzlich und hilfsbereit und haben so gut wie nichts, und wir? Wir meckern über alles!“ Ein Berichtabend ließ dann einzelne Erlebnisse aufblitzen, ein schwacher Versuch in Worte zu fassen was man eigentlich nicht in Worte fassen kann. Man kann nur den jungen Menschen genau in die Augen sehen und dann weiß man, dass etwas ganz tief in ihrem Inneren geschehen ist, bei dem einen stärker bei dem anderen etwas weniger stark oder verborgener. Es ist eine Art Initiation, die ihr Leben verändert hat. Als ein Jahr später einer dieser Schüler den kenianischen Kollegen A. auf eigene Kosten für vier Wochen nach Deutschland einlud, meinte er auf meine Frage, wie das für seine Familie war, trocken:“ A. ist Teil unserer Familie.“
Das Eins-Sein mit allen Wesen und allem Lebendigen ist eine Wahrheit, die wir noch kaum erleben können, wir erleben das Getrennt-Sein! Der Reisevirus erscheint mir eine Suchbewegung der Seele nach sich Selbst im Anderen zu sein, ein Erkennen des Anderen als Teil meiner selbst. Es hängt viel von der Bereitschaft des Reisenden ab, inwieweit er sich darauf einlassen möchte, und von der Gestaltung der Reise, ob so eine Begegnung gelingt. Reisen kann auch eine Flucht vor sich selbst sein, die die tiefe Sehnsucht nicht stillt, sondern eher zu einer Reisesucht führt. Andererseits sind diese Erlebnisse ein Geschenk und nicht planbar – so wie man den Löwen auf einer Safari im Nationalpark nicht planen kann, sondern sich auf die Suche nach ihm machen muss, um dann plötzlich überrascht und tief ergriffen belohnt zu werden.
Und wie ist das für die andere Seite? Freudestrahlend erzählte mir meine erwähnte kenianische Bekannte, der Direktor der Slumschule habe nach unserem Besuch so viel Selbstvertrauen gewonnen, dass er sich selbst auf die Suche nach Sponsoren für einen Schulbau aus Stein machte und von einem lokalen Mobilfunkunternehmen schließlich die Mittel dazu bekam. Unser aufrichtiges Interesse und unsere Anerkennung hatten seine eigenen Kräfte gestärkt. Kaum zu glauben, dass das schon genügte. Wäre dies allgemein der Fall, so wäre das die beste Art von „Entwicklungshilfe“.
Man kann in diesen Begegnungsreisen auch einen Versuch sehen, das große Unrecht der Entdeckungs- und Eroberungsreisen im 16./17. bis ins 19.Jahrhundert – mit all ihrer Ausbeutung, Unterdrückung und Missionierung – durch individuelle, persönliche Begegnungen zumindest ansatzweise zu verwandeln und aufgebrochene Wunden zu heilen.
Eine gelungene Reise dieser Art bringt uns dem Ziel unserer menschheitlichen Reise näher. So wird die Umweltbelastung durch den Reisenden zu einer langfristig heilsamen Investition und man kann nur hoffen, dass für die Fortbewegung bald umweltschonendere Technologien zur Verfügung stehen. – Irmgard Wutte –
Mir ist es noch ein persönliches Anliegen, zu ergänzen, dass auch wir hier in Deutschland unsere Türen öffnen müssen, wenn es uns ernst ist mit einer wirklichen Begegnung. Es scheint, als lähme uns vor allem die in meinen Augen fast krankhafte Angst, von unserem „wohlverdienten Wohlstand“ ein Stückchen abgeben zu müssen. Bislang muss jeder Afrikaner, der uns besuchen möchte, neben vielen anderen Papieren, aus denen seine Rückkehrabsicht deutlich erkennbar ist, auch eine sogenannte „Verpflichtungserklärung“ seines Gastgebers vorlegen. Dazu muss dieser seine Einkommensverhältnisse offen legen und sich persönlich verpflichten, für alle durch den Gast entstehenden Kosten einschließlich eventueller „Rückführung“ aufzukommen. Jeder gebildete Kenianer, dem ich bisher begegnet bin, weiß dies auch und es ist wirklich beschämend als Besucher in einem Land, in dem Gastfreundschaft solch einen hohen Stellenwert genießt. – Elke Bär –